Notenlesen aus didaktischer Sicht
Notenlesen (oder Notation) ist das System aus abstrakten Symbolen, um Musik schriftlich festzuhalten und ein Stück nach den aufgeschriebenen Zeichen am Instrument wiederzugeben.

II. Erweiterte Erklärung
Das Erlernen von Notenlesen wird im traditionellen Musikunterricht oft als selbstverständlich vorausgesetzt, ist jedoch aus kognitiver Sicht eines der größten Hindernisse für Anfänger.
Das doppelte Lernproblem:
Ein Anfänger, der Notenlesen und Instrumentalspiel gleichzeitig lernen soll, steht vor zwei komplexen, voneinander unabhängigen neuronalen Netzwerken:
- Instrument beherrschen lernen: Dies umfasst Motorik, Klangkontrolle, Gehör und Timing und sind verkörperte, sensorisch-motorische Fähigkeiten.
- Noten lesen lernen: Dies ist eine kognitive, symbolbasierte Tätigkeit, bei der abstrakte visuelle Symbole entschlüsselt, zeitlich interpretiert und auf das Instrument übertragen werden müssen.
Beides gleichzeitig zu lernen, ist neuropsychologisch absurd. Wenn Erwachsene Anfängern zurufen, sie sollen "einfach spielen, was da steht", sprechen sie aus Expertenblindheit, da sie vergessen, dass ihr eigenes Gehirn diesen Doppelprozess längst automatisiert hat.
Überforderung im traditionellen Unterricht:
Der klassische Einstieg – „Notenlesen ab der ersten Stunde“ – erzeugt eine kognitive Überlastung, da das Kind gleichzeitig visuelle Zeichen interpretieren, motorische Bewegungen koordinieren, rhythmische Werte umsetzen und klangliche Ergebnisse kontrollieren muss. Die Folge ist Anspannung, Unsicherheit, langsames Lerntempo und oft der Verlust der Freude am Spielen.
III. Didaktische Konsequenz
Wir drehen diesen Prozess um, indem wir Notenschrift bewusst erst dann einführen, nachdem ein grundlegendes musikalisches Verständnis vorhanden ist.
Erst Musik verstehen, dann Musik lesen:
Am Anfang geht es nicht um Notation, sondern um Erfahrung, Spiel und Strukturverständnis. Kinder lernen, wie Musik funktioniert – also Tonarten, Intervalle, Akkorde und rhythmische Muster. Sie erleben Musik als ein System, das sie hören, fühlen und begreifen können, bevor sie lernen, es zu lesen.
Notenlesen als zweite Sprache:
Erst wenn ein Kind am Instrument sicher ist und die theoretischen Grundlagen verinnerlicht hat, bekommt das Notenlesen einen Sinn. Notenschrift wird dann nicht zu einer Barriere, sondern zu einer zweiten Sprache, die auf ein vorhandenes musikalisches Denken aufbaut. Das ist kein blinder Symboltransfer mehr, sondern konzeptuelles Lesen.
Das Ziel ist, Noten in der richtigen Reihenfolge zu lehren: Erst Spiel. Dann Verständnis. Dann Schrift. Kinder, die zuerst spielen, hören und verstehen, lesen später schneller, sicherer und mit echtem Bezug zur Musik. Sie „übersetzen“ keine Zeichen – sie erkennen Strukturen. Das ist der Unterschied zwischen Noten ablesen und Musik lesen.